Europa steht vor einer neuen Handelskrise. Während die Vereinigten Staaten ihre Zölle auf chinesische Waren drastisch verschärfen, strömen immer mehr günstige Produkte aus China auf den europäischen Markt. Die EU-Kommission hat bereits 15 Untersuchungen eingeleitet und Zölle auf 18 überwiegend chinesische Produkte verhängt – doch viele Branchen fordern schnelleres Handeln.
Massive Importzunahme belastet europäische Unternehmen
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Chinesische Exporte in die USA sind im September um 27 Prozent zurückgegangen, während die Lieferungen in die EU um über 14 Prozent zulegten. Besonders dramatisch zeigt sich die Entwicklung bei Plug-in-Hybridfahrzeugen, deren Importe sich im ersten Halbjahr 2025 verdoppelten – mehr als die Hälfte stammt aus China.
„Wenn neue LKW-Reifen aus Asien zu rund 40 Prozent des Preises eines Premium-Reifens ankommen – manchmal sogar günstiger als ein runderneuterter Reifen – wird es hart“, erklärt Clemens Zimmermann, Chef des deutschen Reifenhändlers Marangoni. Sein Unternehmen kämpft wie viele andere gegen den Preisdruck aus China.
Die EU-Kommission bestätigt die Sorgen der Industrie: Eine im April gestartete Import-Überwachungsgruppe identifizierte „potenziell schädliche Importzunahmen“ aus China in zehn Kategorien, darunter Textilien, Chemikalien und Maschinenbau.
Online-Handel verstärkt den Problemdruck
Besonders problematisch entwickelt sich der Online-Handel. Plattformen wie AliExpress, Temu und Shein nutzen die EU-Regel, die E-Commerce-Pakete unter 150 Euro zollfrei lässt, systematisch aus. Am belgischen Flughafen Lüttich, einem Logistikzentrum für Alibaba, stiegen die Frachtmengen im dritten Quartal um 23 Prozent.
Die Auswirkungen zeigen sich bereits konkret: Chinesische Exporte von Online-bestellten Waren in die EU überstiegen Ende September bereits das Gesamtvolumen von 2024. Diese Entwicklung verstärkte sich, nachdem die USA im Mai ihre Zollfreigrenze für Pakete aus China abschafften.
Politischer Widerstand bremst EU-Reaktion
Trotz des wachsenden Drucks reagiert die EU zurückhaltend. Deutschland warnt vor zu schnellen Maßnahmen, da die schwächelnde deutsche Wirtschaft auf Handelsbeziehungen mit China angewiesen ist. „Die EU sollte zunächst den WTO-Beschwerdeweg gegen illegale Subventionen nutzen“, fordert Volker Treier vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag.
Frankreich und Italien drängen hingegen auf härteres Vorgehen. Italien plant bereits, EU-Recycling-Vorschriften als faktische Steuer auf chinesische Fast-Fashion-Produkte zu nutzen. Frankreich fordert Zölle und Quoten für Chemikalien und Automobile.
Verzögerungen bei Handelsverfahren verschärfen Probleme
Ein zentrales Problem liegt in der überlasteten EU-Bürokratie. Während früher Untersuchungen nach sechs bis neun Monaten starteten, dauert es heute oft doppelt so lange. „Chinesische Überkapazitäten wachsen und Produkt für Produkt gelangt hierher. Die Fälle kommen schneller rein, aber der Rückstau wächst“, warnt Laurent Ruessmann von der Anwaltskanzlei RB Legal.
Das EU-Handelsdurchsetzungssystem zeigt strukturelle Schwächen: Maßnahmen werden oft erst lange nach Marktverzerrungen verhängt und bekämpfen nicht die Ursache des Problems – chinesische Überkapazitäten.
Währungseffekte verstärken Preisdruck
Zusätzlich verschärft die Währungsentwicklung die Situation. Der Yuan schwächte sich von 7,5 zu Jahresbeginn auf aktuell 8,3 pro Euro ab, was chinesische Importe automatisch günstiger macht. Diese Entwicklung überlagert die handelspolitschen Effekte und erschwert die Bewertung echter Marktverzerrungen.
Ausblick bleibt ungewiss
Die Reifenbranche illustriert das Dilemma exemplarisch: Trotz bestehender Zölle auf schwere LKW-Reifen steigen chinesische Importe seit fünf Jahren. Eine Anti-Dumping-Untersuchung für leichtere Fahrzeugreifen startete erst im Mai – solche Verfahren können bis zu 14 Monate dauern.
„Es gibt zumindest ein Bewusstsein für die Situation“, kommentiert Florent Menegaux, CEO des französischen Reifenherstellers Michelin. „Aber bisher fehlen konkrete Maßnahmen.“ Ob Europa rechtzeitig reagieren kann, bevor weitere Branchen unter dem Preisdruck zusammenbrechen, bleibt fraglich.


