Die Edelmetalle erleben einen historischen Aufschwung, der selbst erfahrene Marktteilnehmer überrascht. Gold kratzt an der 4.400-Dollar-Marke, während Silber erstmals die 66-Dollar-Schwelle durchbricht. Doch was treibt diese außergewöhnliche Rally – und wie lange kann sie noch anhalten?
Unsicherheit als Treibstoff
Die aktuelle Entwicklung speist sich aus einem Cocktail wirtschaftlicher Unwägbarkeiten. Der US-Arbeitsmarkt sendet gemischte Signale: Während die Beschäftigtenzahlen im November über den Erwartungen lagen, kletterte die Arbeitslosenquote auf ein Vierjahreshoch. Fed-Gouverneur Christopher Waller räumt ein, dass die Situation „sehr schwach“ sei und die monatlichen Jobzuwächse von 50.000 bis 60.000 wahrscheinlich nach unten korrigiert werden – möglicherweise auf nahezu null.
Diese Gemengelage verstärkt die Nachfrage nach sicheren Häfen. Gold legte um 0,8 Prozent auf 4.335 Dollar zu, nur 50 Dollar unter dem Allzeithoch. Silber schoss sogar um 3,6 Prozent auf ein Rekordhoch von 66,31 Dollar. Die Performance ist beeindruckend: Im Jahresverlauf 2025 hat Silber mehr als 100 Prozent zugelegt – eine Verdopplung, die bei institutionellen wie privaten Anlegern gleichermaßen Begehrlichkeiten weckt.
Fed-Politik im Spannungsfeld
Die Federal Reserve balanciert auf einem schmalen Grat. Waller betont, dass die Zinsen noch immer 50 bis 100 Basispunkte über dem neutralen Niveau lägen – jenem Punkt, der weder stimulierend noch bremsend wirkt. „Wir haben noch Spielraum, die Zinsen weiter zu senken“, so der Notenbanker. Nach der jüngsten Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte auf 3,50 bis 3,75 Prozent preist der Markt allerdings mit 73-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Pause im Januar ein.
Dabei bleibt die Inflationsentwicklung im Fokus. Waller gibt sich gelassen: Marktindikatoren und Inflationserwartungen deuteten nicht auf eine Wiederbeschleunigung hin. Selbst umfassende US-Zölle, die vielfach als Inflationsrisiko gelten, würden nur einen „einmaligen“ Effekt haben. Die Märkte warten nun gespannt auf die Verbraucherpreisinflation, die am Donnerstag veröffentlicht wird und weitere Hinweise auf den geldpolitischen Kurs liefern soll.
Strukturelle Nachfrage bleibt stark
Die Rally fußt auf solideren Fundamenten als manchem lieb ist. JP Morgan schätzt, dass allein zur Aufrechterhaltung des aktuellen Preisniveaus eine kombinierte Nachfrage von Zentralbanken und Investoren von rund 350 Tonnen pro Quartal nötig ist. Die Prognose für 2026 liegt bei durchschnittlich 585 Tonnen – ein deutlicher Puffer.
Zum fünften Mal in Folge diversifizieren Zentralbanken ihre Reserven weg vom Dollar. Diese institutionelle Unterstützung wirkt stabilisierend: Wenn Investoren Gewinne mitnehmen und Preise fallen, greifen die Notenbanken zu. „Das Preisniveau wird dadurch deutlich höher gestützt als zu Beginn“, erklärt Gregory Shearer von JP Morgan. Der Anteil von Gold am verwalteten Vermögen sei von 1,5 Prozent vor 2022 auf aktuell 2,8 Prozent gestiegen – erhöht, aber keineswegs eine Obergrenze.
Eine neue Käufergruppe verstärkt die Nachfrage: Krypto-Unternehmen wie Tether, Herausgeber des größten Stablecoins, kauften im dritten Quartal etwa 26 Tonnen Gold – fünfmal mehr als Chinas Zentralbank im selben Zeitraum. Diese unerwartete Verflechtung von traditionellen Sicherheitswerten und digitalen Währungen könnte wegweisend werden.
Silber im Rampenlicht
Während Gold traditionell den Ton angibt, stiehlt Silber zunehmend die Show. Die Ausweisung als kritisches Metall durch die US-Regierung und Erwartungen eines Angebotsdefizits 2026 treiben die Nachfrage. Für viele Anleger bietet Silber vergleichbare Stabilität wie Gold – zu einem Bruchteil des Einstiegspreises. Diese Demokratisierung des Edelmetall-Investments hat dem weißen Metall seine spektakuläre Performance beschert.
Die Märkte positionieren sich bereits für Verknappungen. Industrielle Anwendungen, insbesondere in der Energiewende und Elektronik, verschärfen die Situation. Platin profitiert ebenfalls von der Flucht in sichere Häfen, während Kupfer Auftrieb durch Spekulationen auf chinesische Konjunkturmaßnahmen erhält.
Ausblick: Wie weit noch nach oben?
Die Analystengemeinde zeigt sich optimistisch. BMO Capital sieht Gold bereits im ersten Quartal bei 4.600 Dollar. JP Morgan prognostiziert für das zweite Quartal über 4.600 Dollar und bis Jahresende mehr als 5.000 Dollar. Metals Focus teilt diese Einschätzung. Morgan Stanley peilt 4.500 Dollar bis Mitte 2026 an.
Doch nicht alle sehen die Rally ewig weiterlaufen. Macquarie erwartet mit durchschnittlich 4.225 Dollar eine Konsolidierung unterhalb der aktuellen Niveaus. Die Begründung: Die globale Wirtschaft stabilisiere sich, Zinssenkungen würden auslaufen, und die realen Zinsen blieben relativ hoch. Zudem schwächelt die Schmucknachfrage – im dritten Quartal brach sie um 23 Prozent ein.
Die entscheidende Frage bleibt: Handelt es sich um eine Blase? Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich warnt, dass das gleichzeitige Ansteigen von Gold- und Aktienpreisen ein Phänomen sei, das seit einem halben Jahrhundert nicht mehr beobachtet wurde. Tatsächlich kaufen viele Investoren Gold als Absicherung gegen mögliche scharfe Korrekturen an den Aktienmärkten – ein Hedging-Ansatz, der bei einem tatsächlichen Crash durch Zwangsverkäufe wieder zusammenbrechen könnte.
Die fiskalischen Sorgen in mehreren Ländern, geopolitische Spannungen um die Ukraine und Unsicherheiten über die Fed-Unabhängigkeit sprechen für anhaltende Nervosität. Philip Newman von Metals Focus beobachtet, dass Privatanleger bei steigenden Preisen nicht verkaufen, sondern sogar zukaufen – ein untypisches Verhalten, das die Rally verlängern könnte. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Edelmetalle ihren Glanz behalten oder ob der Höhenflug in einer schmerzhaften Korrektur endet.


